Ingrid-Noll-Weg

Die Wegpunkte in Textform

1 - Tourist Info _ Thomas Fischer

Station #1 - Der Marktplatz

Guten Tag, liebe Weinheim-Besucher!

Sie stehen hier direkt auf dem Marktplatz, der guten Stube unserer Stadt.

Vielleicht wundern Sie sich, dass es hier einen Ingrid-Noll-Weg gibt. Nun ja, ich bin die Namensgeberin und versuche sehr gern, Ihnen meine Heimatstadt zu zeigen und ans Herz zu legen. Wer ich überhaupt bin, werden Sie sich vielleicht fragen. Wenn Sie gern Krimis lesen, dann wissen Sie es: Ich schreibe Romane, die meistens hier in meinem Jagdrevier spielen, also in Weinheim, Heidelberg, Mannheim, Ladenburg, Schwetzingen oder im Odenwald.

Seit über 50 Jahren lebe ich nun schon in Weinheim, inzwischen ist es zu meiner Heimat geworden. Hier kann man sich eigentlich nur wohl fühlen, das Klima ist perfekt, man spricht sogar von der Toskana Deutschlands. Die Altstadt ist malerisch, die Menschen sind aufgeschlossen und freundlich, es gibt einen schönen Park und einen zauberhaften Sichtgarten. Verkehrstechnisch ist Weinheim gut angebunden, Mannheim, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Stuttgart sind im Nu zu erreichen. Für Wanderer bieten der nahe Odenwald und die Pfalz die schönsten Möglichkeiten. Wenn Sie sich jetzt einmal umschauen, sehen Sie auch eine Kirche, nämlich St. Laurentius. Sie ist vergleichsweise noch jung, denn sie wurde erst Anfang des letzten Jahrhunderts auf den Fundamenten einer viel älteren Kirche erbaut.

2 - St.-Laurentius-Kirche _ Sabrina Hisge-Rushmere

Station #2 - Die St.-Laurentius-Kirche

Direkt vor der Kirche steht ein Denkmal, es ist der sogenannte stürmende Krieger aus wilhelminischer Zeit. Natürlich sind solche martialischen Statuen nicht gerade zeitgemäß, aber sie regen zum Nachdenken über den historischen Hurra-Patriotismus an. Umso schöner finde ich, dass es am Anfang der Fußgängerzone ein modernes Kunstwerk gibt, ein dünnes kleines Mädchen hoch zu Ross. Es müssen nicht immer Soldaten sein, die auf einem Gaul sitzen, und auch die Pferde finden es sicherlich angenehmer, wenn sie keine Kanonen ziehen müssen, sondern von einem Mädchen liebevoll gestriegelt werden. Aber nun runter vom Pferd und zurück zum Hahn:

Mein erster Roman, durch den ich bekannt wurde, hieß „Der Hahn ist tot“, deswegen ist jetzt auch ein Hahn Ihr Wegweiser. Wie ich überhaupt dazu kam, Romane zu schreiben? Ich war bereits Mitte fünfzig und durch die große Familie und die Mithilfe in der Praxis meines Mannes bisher nicht zum Schreiben gekommen. Erst als unsere Kinder nach und nach auszogen, ich endlich ein eigenes Zimmer und mehr Freiraum hatte, begann ich zu experimentieren. Es war mir klar, dass mir die Geschichten am besten gelingen, wenn ich sie an mir bekannten Orten ansiedle. Zum Beispiel schreibe ich gerade einen Roman, in dem meine Protagonistin direkt am hiesigen Marktplatz wohnt. Ich lese mal eine kleine Probe vor:  

Hier am Weinheimer Marktplatz sammeln sich im Sommer Touristen und Einheimische, um unter japanischen Schnurbäumen Eis zu essen, Wein zu trinken und den lauen Abend in heiterer Gesellschaft zu verbringen. Deswegen ist es gerade an den Wochenenden bis in die späte Nacht hinein ziemlich laut, doch wofür gibt es Ohrstöpsel. Wenn ich aber an einem grauen Novembertag morgens die alten grünen Fensterläden öffne und hinausblicke, ist es ruhig und still. Nebel liegt über der fernen Burg, ein paar Saatkrähen haben sich verirrt und kreisen um den Roten Turm, der noch von der ehemaligen Stadtmauer übriggeblieben ist.

Vom Marktplatz ist es nicht mehr weit bis zum Schlosshof.

3 - Schlosshof _ Thomas Fischer

Station #3 - Im Schlosshof

Früher residierten hier die Fürsten der Kurpfalz, heute ist es die Stadtverwaltung. Das Weinheimer Schloss beherbergte auch einige berühmte Frauen, zum Beispiel war Lieselotte von der Pfalz hier zu Gast. 1835 lebte Baron von Venningen mit seiner Gemahlin Lady Jane im Schloss, der französische Schriftsteller Balzac besuchte Weinheim vor allem wegen dieser schönen Frau. Man wittert natürlich erotische Skandale. Ob es auch zu Mord und Totschlag kam? In meinen Büchern sind Frauen meistens die Täterinnen, entweder handeln sie spontan oder sie planen mit Hilfe eines gefügigen Gehilfen einen Mord, wie zum Beispiel im Krimi „Die Apothekerin“.

Der Freund der Apothekerin, ein Student der Zahnmedizin, hatte eine geniale Idee, bei der winzige Giftpillen nicht wegzudenken waren. Hella erkannte sofort, dass kein großes Risiko bestand, die Pillen in ein kleines Loch der Zahnprothese einzubetten. Ihre Gedanken kreisten nur noch um das eine Thema, etwa so:

Ich musste an die Leute aus meinem Verwandten- und Bekanntenkreis denken, die sich einen schnellen Tod gewünscht hatten: tot umfallen, ohne Krankenhaus, Schläuche und Apparate. War Hermann Gräber mit diesem schmerzlosen Tod nicht besser bedient, als wenn er monatelang leiden musste? – Für mich war es immer noch ein bloßes Gedankenexperiment, als wir gemeinsam die verschiedenen Giftröhrchen untersuchten. „Nach Präparation einer Kavität werde ich eine temporäre Füllung legen“, dozierte Levin. „Was ist eine Kavität?“, fragte ich. „Ein Defekt in der Zahnhartsubstanz“, sagte er. – Mein Blick fiel auf das wunderschöne Foto der großelterlichen Villa, das Levin in der Küche aufgehängt hatte. Das stumme Bild überzeugte mich: Dorthin gehörte ich, nicht in eine Mietwohnung ohne Balkon und Garten.

Zum Glück sind wir hier im Freien und von Grün umgeben, ganz in der Nähe stehen wunderbare Bäume, die Geschichten erzählen könnten.

4 - Alte Zeder _ Thomas Fischer

Station #4 - Die Alte Zeder

Erwähnenswert ist vor allem diese uralte Libanon-Zeder, die etwa 300 Jahre alt sein soll. Ob Bäume wissen, was sie schon alles erlebt haben? Und ob sie ähnliche Zipperlein haben, wie wir alten Menschen?

Älter wird man zwar Tag für Tag, aber wann wird man alt? Es geht los, wenn nicht mehr alles so problemlos funktioniert wie bisher.

Bei mir fing es mit den Augen an. Bereits mit Mitte vierzig kam es zu einer dramatischen Krise: Um die klein gedruckte Kontonummer auf einer Rechnung zu entziffern, musste ich plötzlich eine Lupe zu Hilfe nehmen. Bald darauf knallte ich wütend das Telefonbuch in die Ecke oder scheiterte an einem Stadtplan. Als ich schließlich eine Dose Hundefutter statt Pfifferlingen vom Einkauf mitbrachte, wurde es zur Gewissheit: Eine Lesebrille musste her. Ich war wochenlang beleidigt, dass es ausgerechnet meine Adleraugen erwischt hatte.

Ein paar Jahrzehnte später konnte ich auch meinen Ohren nicht mehr trauen. Warum wurde es auf einmal so anstrengend, in einer fröhlichen Runde zu sitzen? Warum verstand ich nur noch diejenigen, die mir gegenüber saßen? Inzwischen besitze ich ein Hörgerät, also ein zweites Ersatzteil.

Doch allmählich werden es weitere unangenehme üBefindlichkeiten, beziehungsweise Materialermüdung, die sich als lästig erweist. Andererseits haben viele Altersgenossen bereits ein neues Hüftgelenk, eine Zahnprothese oder einen Herzschrittmacher, soll ich da über Brille & Hörgerät jammern? Aber trotzdem frage ich mich zuweilen, was es denn Schönes am Älterwerden geben soll?

Natürlich kann ich eine ganze Menge aufzählen: Freude an Enkelkindern, Klarheit über die eigenen Möglichkeiten, Abschied von Lebenslügen, heitere Gelassenheit und die Gewissheit, dass man ersetzbar ist. Ich ahne, dass ich nicht mehr alle Bücher lesen werde, die in der Warteschleife liegen. Auch die abenteuerlichen Reisen, von denen ich einst träumte, werden nicht mehr möglich sein. Aber völlig abgeklärt bin ich deswegen noch lange nicht.

Inzwischen werde ich 86, und die Augen spielen mir ganz neue Streiche: Ich lese Wörter, die gar nicht dort stehen. Bin ich mit den Jahren prüde geworden, weil ich Hosenschlitz mit Hochsitz und Klimakterium mit Klimakatastrophe verwechsele? Wünsche ich insgeheim, dass Die Deutsche Bahn AG untertäniger mit uns umgeht, weil ich doch deutlich gelesen habe: Bitte nur mit gütiger Fahrerlaubnis? Ist mir jegliche Bildung abhanden gekommen, weil ich mich über das Knöchelverzeichnis verwundere? Bin ich vielleicht hungrig, weil meine Augen das Barock in einen Backofen verwandeln? Der Notarzttermin wird zum Notartermin, die Plastiktüte zur Plastikblüte, der Frisör zum Fischöl, das Notebook zum Notbett. Statt hinterrücks habe ich gestern winterrücks gelesen und überlege, ob diese geheimnisvolle Neuschöpfung nicht für den Titel eines neuen Romans taugen könnte.

Dem Winter ein Schnippchen schlagen, das tun Deutschlands Rentner schon lange auf Mallorca, aber in Weinheim ist es eigentlich viel schöner, auch im Alter und selbst im Winter.

Aber genug von der alten Zeder, denn jetzt geht es um einen Ginkgo, zu dem ich ein ganz persönliches Verhältnis habe.

5 - Ginkgo im Schlosspark _ Thomas Fischer

Station #5 - Der Ginkgo

Geboren wurde ich in China. Und wenn ich vor diesem wunderbaren Baum hier stehe, muss ich unwillkürlich an unseren Garten in Nanking denken, in dem zwei noch junge Ginkgo-Bäumchen standen. Sie werden gern vor Tempeln angepflanzt und gelten in China als heilige Bäume. Wir waren etwa sechs und acht Jahre alt, als meine Schwester und ich davon hörten. Wenn es keiner sah, knieten wir uns jede vor einem Baum nieder und beteten oder eher bettelten ihn an. Später lernte ich Goethes Gedicht „Ginkgo biloba“ auswendig, unser größter Dichter war nämlich völlig fasziniert von „dieses Baums Blatt“.

Vor vielen Jahren bekam ich einen Ginkgo-Kern geschenkt und bettete ihn in einen Blumentopf. Inzwischen überragt der Baum unser Haus und kam mit Mitte zwanzig zu unserer Überraschung in die Pubertät, denn der Baum ist zweihäusig, es gibt also Männchen und Weibchen. Allerdings sind die schönen gelben Früchte eine Plage, denn kein vernünftiges Lebewesen mag sie auch nur anrühren, sie verströmen nämlich einen ekelhaften Geruch nach Buttersäure. Der Ginkgo gilt als lebendes Fossil, er überlebte 1945 sogar die Atombombe in Hirohsima wie sonst kein anderer Baum. Wir sollten ihn zwar nicht gerade anbeten, aber bewundern und verehren.

Honore de Balzac

Station #6 - Der Tisch des Honoré de Balzac

Wir wissen inzwischen, dass der französische Dichter ein Genussmensch und leidenschaftlicher Kaffeetrinker war, aber nicht deswegen, sondern aus amourösen Gründen nach Weinheim kam. Am bekanntesten ist wohl sein Hauptwerk, La Comédie Humaine, aber auch die Tolldreisten Geschichten werden immer noch gern gelesen. Was allerdings nicht so bekannt ist, dass Balzac mit seinen Kollegen Victor Hugo, Alexandre Dumas und George Sand 1838 den ersten französischen Schriftstellerverband gründete. Erst 1921 wurde in England der internationale Schriftstellerverband PEN gegründet, in Deutschland ist es das PEN-Zentrum, das sich vor allem auch für verfolgte und unterdrückte Schriftsteller einsetzt. Aber zurück zu Weinheim, das schon von vielen berühmten Dichtern und Denkern aufgesucht wurde. Am bekanntesten ist natürlich unser Star Goethe, der auf seinen Reisen gen Süden mehrmals hier Station machte. In der Alten Post wurden die Pferde gewechselt, manchmal vielleicht auch ein Rad der Postkutsche, und der Geheimrat Goethe ließ es sich unterdessen nicht nehmen, ein Glas Bergsträßer Wein zu probieren. 1612 schrieb er über die Bergstraße, dass hier sogar Italien übertrumpft werde. Aber auch einen eigenen Schriftsteller hat die Stadt hervorgebracht, Adam Carillon. Und was das Krimischreiben angeht, gibt es außer mir inzwischen noch Nachwuchs: Weinheim wurde in letzter Zeit zum Crimeheim. Allerdings ist das eine fiktive Annahme, denn unser friedliches Städtchen ist nicht zum Zentrum der Kriminalität geworden, die Mordsgeschichten sind zum Glück alle erfunden. Aber um den Tod geht es allemal, das wird einem im Anblick des Mausoleums wieder einmal bewusst. Der Dichter Rainer Maria Rilke schrieb:

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
Lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten ins uns.

7 - Mausoleum _ Thomas Fischer

Station #7 - Das Mausoleum

Die Adelsfamilie Berckheim hatte dieses Jugendstil-Gebäude für ihre Angehörigen erbaut. Da hier Tote ruhen, wird man

an dieser Stelle an die Endlichkeit des Lebens erinnert. Auch in einem Krimi geht es ums Sterben, allerdings nicht um das friedliche Ableben im Bett. In meinem Roman “Röslein rot“ setzt sich die Protagonistin immer wieder mit der Vergänglichkeit auseinander, oft beim Betrachten eines Stilllebens. Hier ein kleiner Auszug:

Auf dem Vanitas-Gemälde eines unbekannten Meisters findet sich außer den üblichen Symbolen der Vergänglichkeit auch eine Glaskugel. Im trüben, graugrünen Dämmerlicht erscheint vor allem der Totenkopf in der rechten Ecke als drohendes Menetekel. Sieh, o Mensch, was du in Kürze sein wirst – ein nackter Schädel ist das Einzige, was von dir bleibt. Als ob der Totenkopf allein nicht ausreiche, gemahnt ein großer Röhrenknochen ans unausweichliche Ende. Ein golden schimmernder Prunkpokal ist umgestürzt, ein Glas geleert, die Gänsefeder hat den Schlussstrich gezogen. Und die Zerbrechlichkeit des Glases ist ein zusätzlicher Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit allen Seins, auf die Vergänglichkeit von Liebe und Glück.

 

Im Angesicht eines Mausoleums oder Friedhofs wird man sich ähnliche Gedanken über den Tod machen. Doch in Krimis geht es ja um Verbrechen, um das Töten eines Menschen aus niedrigen Motiven. Gleich in meinem ersten Roman „Der Hahn ist tot“ bringt Rosemarie Hirte ihre Freundin aus Eifersucht um.

Meine hilflose Wut auf Beate steigerte sich unaufhaltsam. Ich hätte sie auf der Stelle erwürgen können. Erwürgen? Warum eigentlich nicht? Von da an konnte ich an nichts anderes mehr denken. Beate, meine einzige Freundin! Ich werde dir nicht weh tu, Beate, dich nicht quälen, du sollst schnell sterben, ohne dass lange gezittert und gefackelt wird. Ich werde dir nicht wie in einem Kriminalfilm lange Reden halten, bevor ich abdrücke. Kopfschuss, das ist es, sofort bewusstlos, Hirnblutung und aus.

Doch es kommt ja anders. Der Mord geschieht nicht etwa durch einen Schuss, sondern durch eine spontane Idee. Rosemarie Hirte verabredet sich mit ihrer Freundin zu einem Picknick, die beiden besteigen den Weinheimer Hirschkopfturm, um von oben bei schönster Aussicht Sekt und Hühnerbeine zu genießen.  Als Beate in übermütiger Stimmung auf den Rand der Brüstung steigt, nutzt Rosemarie die Gunst der Stunde.

Ein energischer Stoß mit beiden Händen gegen ihre braunen Beine, und Beate fiel mit einem ganz hohen Schrei und mit dem Sektglas in der einen, dem Hühnerbein in der anderen Hand, den Turm hinunter.

Doch es gibt ja noch viele andere Mordmethoden, zum Beispiel durch Gift. In der Botanik ist zwar eine Menge an tödlichen Giftstoffen vorhanden, aber auch das Gegenteil: die heilenden Pflanzen. Man findet sie hier im Heilkräutergarten.

8 - Heilkräutergarten _ Roland Robra

Station #8 - Der Heilkräutergarten

Eine meiner Heldinnen ist Apothekenhelferin, ihr Hobby ist das Fotografieren von Pflanzen.

Schließlich arbeitete ich in einer Apotheke und wusste nur zu gut, wie sehr ein Großteil unserer Kundschaft auf die Heilkräfte der Natur vertraute. Fast alle Pflanzenteile, also Rinden, Samen, Wurzeln, Blüten und Blätter kommen zum Einsatz. Ginseng und Ginkgo, Baldrian, Mariendistel und Rosskastanie, Hagebutten und Kürbiskerne – um nur ein paar Beispiele zu nennen – liefern beliebte Pulver, Kapseln, Pillen, Tees und Tropfen. Wäre es nicht eine neue Herausforderung, bewährte und auch weniger bekannte Heilpflanzen zu fotografieren? Schließlich gab es im Weinheimer Schlosspark in der Nähe der Vogelvoliere einen wunderbaren Kräutergarten mit Arznei-, Gewürz- und Duftpflanzen, sorgfältig nach Indikationsgebieten geordnet. Eine anregende Ausstellung im Schaufenster meiner Apotheke würde vielleicht sogar meiner Chefin imponieren, und meine Kunst könnte endlich von einem breiteren Publikum bewundert werden. Im Geiste sah ich schon die blühende Knoblauchranke vor mir, aber auch so manches Kräutlein aus meinem Fundus, etwa Löwenzahn und Gundermann. Allerdings musste ich unbedingt vor jenen Pflanzen warnen, die zwar von der Pharma-Industrie verarbeitet werden, doch auf keinen Fall in der heimischen Küche Verwendung finden dürfen.

Natürlich spielen giftige Pflanzen in einem Kriminalroman oft eine wichtige Rolle, man sollte also den bildschönen Fingerhut nicht auf eigene Faust für ein selbstgemachtes Digitalis-Präparat zur Behandlung von Herzinsuffizienz verwenden, es sei denn, man verfolgt finstere Absichten. Und wer böse Pläne hat, sollte sich hier am Blauen Hut gut überlegen, was das für Konsequenzen haben könnte – nämlich lebenslange Freiheitsstrafe.

Blauer Hut im Schlosspark

Station #9 - Der Blaue Hut

Der Blaue Hut ist wohl der älteste Teil der Stadtbefestigung und stammt aus der Zeit um 1250. Seinen Namen verdankt er der Farbe seines ehemaligen Schieferdachs. Der Turm diente in früheren Zeiten als Gefängnis mit einem 8 m tiefen Verlies.

Hier möchte man natürlich auf keinen Fall eingesperrt werden, da sieht es in den heutigen Gefängnissen doch sehr viel komfortabler aus.

Aus purer Neugierde habe ich mich einmal bereit erklärt, in einem Männerknast eine Lesung abzuhalten. Ein wenig unbehaglich war mir schon, als ich bei der Anmeldung alles außer Buch und Lesebrille abgeben musste und dann durch mehrere Türen, die vor mir auf- und hinter mir abgeschlossen wurden, in einen großen Raum begleitet wurde, wo man mich. bereits erwartete. Die Teilnahme war natürlich freiwillig. Vor mir saßen in der Mehrzahl junge Männer, die im Grunde ganz harmlos und sympathisch wirkten. Was mögen die nur ausgefressen haben, dachte ich. Später erfuhr ich vom Direktor, dass zahlreiche Dealer darunter waren. Nun, mein Publikum hörte aufmerksam zu und stellte hinterher viele Fragen. Ganz vorsichtig wollte ich am Ende wissen, ob ich denn auch etwas fragen dürfe. Ja, sehr gern, sagten meine Zuhörer, im Übrigen wären sie fast alle unschuldig hier gelandet. Im Grunde hätte ich natürlich gern von jedem einzelnen gewusst, warum er hier war. Aber ich fragte bloß: „Ist vielleicht auch ein Mörder hier unter uns?“ – Neben mir stand ein stämmiger Mann, groß wie ein Baum, da es heiß war, nur in kurzer Hose und Tank-Top. Völlig begeistert schnellte seine Hand nach oben, und er meldete sich wie ein Erstklässler, der endlich auch mal drankommt und rief: „Ich, ich, ich!“

Natürlich gibt es unendlich viele Gründe, warum man im Knast landen kann, aber auch in einem modernen Gefängnis ist es bestimmt kein Vergnügen. Und wenn man schon ans Mittelalter mit seinen drastischen Strafen denkt, dann wäre es doch eine angenehmere Möglichkeit, als Ritter und Burgherr oben auf einem Berg zu thronen und nicht unten in einem dunklen Verlies zu verschmachten. Schauen wir also hinauf zu Weinheims Burgen!

Burgenblick

Station #10 - Der Burgenblick

Weinheim wird auch die Zweiburgenstadt genannt, wobei sich die beiden Burgen in vielen Dingen, aber vor allem im Alter wesentlich unterscheiden. Die Wachenburg ist keine mittelalterliche Ritterburg, sondern wurde in den Jahren 1907 – 1928 vom Weinheimer Senioren-Convent als Begegnungsstätte und Tagungsort gebaut. Meine Mutter, Jahrgang 1901, wurde als junges Mädchen dort zu einer Tanzveranstaltung eingeladen und schwärmte noch im hohen Alter von diesem Vergnügen. Auch heute treffen sich an Himmelfahrt die Corpsstudenten dort zur Tagung. Höhepunkt des studentischen Treibens ist der Fackelzug am späten Samstagabend. Dabei marschieren hunderte Studenten von der Wachenburg bis hinunter vors Alte Rathaus.

Das andere Weinheimer Wahrzeichen, die Burgruine Windeck, ist natürlich sehr viel älter. Auf dem Turm weht immer ein Fähnchen. Als Schutzburg des Klosters Lorsch nach 1100 erbaut, wurde die Windeck im ausgehenden 17. Jahrhundert zerstört. Seit 1978 ist die Burgruine im Besitz der Stadt Weinheim. Eine architektonische Rarität ist die in die Mauer des Bergfrieds eingelassene Wendeltreppe.

Wer Kinder und Enkel hat, kennt das Problem, den Nachwuchs für Wanderungen zu motivieren. Es sollte immer ein spannendes Ziel angewählt werden, und was könnte sich besser dafür eignen als eine verfallene Burg, in der früher die Rittersleute lebten und ihren Untertanen bei Gefahr Schutz gewährten. Abgesehen davon, dass man den Kindern dort oben ein Eis oder eine Limo spendieren kann, sollte man ihnen von einem unterirdischen Geheimgang erzählen. Es gibt ihn immer noch, ungesehen konnte ein Bote in Kriegszeiten und bei Belagerung hinunter in den Ort gelangen, um dort Vorräte zu besorgen oder um Verstärkung und Hilfe zu bitten. Der geheimnisvolle Gang mündet in einem Brunnenschacht mitten auf dem Burghof, ist aber aus Sicherheitsgründen nicht geöffnet. Aber schön gruselig ist die Vorstellung allemal. Vielleicht könnte ich ja rein fiktiv eine Leiche dort verstecken… Oder wäre ein Museum nicht ebenfalls geeignet, um zwischen alten Knochen und Scherben ein etwas jüngeres Skelett einzuschmuggeln?

Museum

Station #11 - Das Museum

In meinem Roman „Goldschatz“ kommt eine kleine Truhe vor, die in einer alten Scheune gefunden wurde. In schwarzen Lettern prangt auf dem Eichenholz: Schöne Mädchen und Geigenklang hab ich geliebt mein Leben lang!  So etwas kann ich natürlich nicht erfinden, die Anregung erhielt ich im hiesigen Heimatmuseum, also im Museum der Stadt Weinheim in der Amtsgasse. Das ehemalige Deutschordenhaus wurde 1710 erbaut und 1948 als Heimatmuseum eröffnet. Interessant ist natürlich der Weinheimer Mammut, den man im Waidsee entdeckt hatte, er soll über 40 000 Jahre alt sein und ist damit bei weitem das älteste Fundstück. Im Weiler Nächstenbach stieß man auf Funde aus der Bronzezeit, ausgestellt werden Fresken aus der alten Peterskirche und unter vielen anderen sehenswerten Exponaten gibt es natürlich auch bäuerlichen Hausrat, zu dem „meine“ Truhe zählt.

Vor einem solchen Museum kommen mir natürlich auch Gedanken über den Begriff „Heimat“, der für jeden etwas anderes bedeuten kann: Es mag der Ort oder die Region der Geburt und des Aufwachsens sein, aber auch die Sprache, die Kultur, das Klima, der Menschenschlag und so weiter. Obwohl ich in Shanghai geboren wurde, ist China deswegen noch lange nicht meine Heimat. Nach über fünfzig Jahren, die ich hier schon lebe, ist es Weinheim, wo unsere Kinder zur Schule gingen, wo ich im Chor sang, wo unser Haus steht, wo ich viele Einwohner kenne und mag, wo ich auch bis zuletzt bleiben möchte.

Wenn man das Glück hat, in der Heimat leben zu dürfen, sollte man sich bewusstwerden, dass das keine Selbstverständlichkeit ist und gelegentlich auch an die vielen Menschen denken, die Flucht und Vertreibung erleiden müssen. Als meine Familie 1949 aus China flüchten musste, war ich in Deutschland zunächst auch eine Fremde, aber mit 14 Jahren kann man sich rasch integrieren, außerdem musste ich ja keine neue Sprache erlernen. Trotzdem muss ich bei dem Begriff „Heimat“ auch oft an das Gegenteil, an „heimatlos“ denken.

Wie schön, dass es Menschen gibt, die ihren Besitz teilen wollen, die sich öffnen und sogar ganz fremde Leute in ihren Garten lassen. Der Hermannshof gehört zum Anwesen einer Weinheimer Industriellenfamilie und steht nun der Allgemeinheit zur Verfügung, natürlich ohne Eintrittsgebühr.

12 - Hermannshof _ Thomas Fischer

Station #12 - Der Hermannshof

Wenn wir Besuchern von auswärts unsere Stadt zeigen wollen, dann geht es natürlich auch zum Hermannshof. Wir Weinheimer sind mächtig stolz auf diesen öffentlichen Garten. Ich lasse jetzt eine meiner Protagonistin sprechen:

Als Pflanzenspezialistin war ich schon mehrmals im nah gelegenen Hermannshof, gewesen. Dieser öffentliche Schau- und Sichtungsgarten ist durchaus etwas Besonderes, denn man schnuppert an mediterranen Kräutern, Bauernjasmin, Damaszener-Rosen oder Verbenen, man steht mal auf einer asiatischen Bergwiese, mal in einem subtropischen Monsunwald, an einem Seerosenteich oder mitten in der Steppe oder Prärie. Im milden Klima der badischen Bergstraße gedeihen Mandel- und Feigenbäume, Myrten, Zypressen und Edelkastanien, aber auch Zedern, Mammutbäume und Ginkgos. Von weit her kommen Touristen und Spezialisten, um sich hier weiterzubilden oder einfach nur, um die Farbenpracht und Wildheit zu genießen. Natürlich wird auch fleißig fotografiert, und auch ich kann nie widerstehen, denn das farbenfrohe Durcheinander ist gut durchdacht und bleibt keineswegs dem Zufall überlassen.

Wenn ich ausnahmsweise allein im Hermannshof spazieren gehe, habe ich nicht nur einen einzigen Lieblingsplatz zum Ausruhen und Genießen. Zur Blütezeit der lila Glyzinien sitze ich gern auf einer grünen Bank und lasse mich vom betäubenden Duft einlullen. Giftig ist der märchenhaft schöne Blauregen allerdings schon. Auch bei mir zu Hause rieselten die Blüten der wuchsfreudigen Schmetterlingsblütler auf die Terrasse herunter und in die Untersetzer meiner Topfpflanzen, und unser Hund trank das abgestandene Wasser. Zum Glück bekam er aber nur Bauchweh… Man sollte allerdings vorsichtshalber keinen Kinderwagen mit Inhalt unter blühende Glyzinien stellen.

Nicht nur an heißen Tagen schaut eigentlich jeder gern auf Wasser, auch im Hermannshof gibt es einen Teich mit Seerosen, wo man Libellen und Frösche beobachten kann. Ich sitze dann am beschaulichen Ufer und blicke auf das Wasser und die Feuchtwiesen. Im Herbst zieht es mich allerdings in den Präriegarten, der dann in den glühendsten Farben leuchtet.

13 - Marktpaltz _ Ilona Andersen

Station #13 - Zurück am Marktplatz

Jetzt sind wir wieder am Ausgangspunkt, also am Marktplatz angekommen, und ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Nicht ohne einen kleinen feinen Mord aus meiner Kurzgeschichte „Der Schnappschuss“. Diesmal lasse ich einen Mann berichten:

Meine Frau Fiene besaß keine Fotoalben, sondern Aktenordner, die sie mit ihren Werken füllte. Ab ihrem fünfzigsten Lebensjahr gab es kaum mehr ein anderes Motiv für meine Frau als mich. Ihr Lebenswerk ist zu einer gigantischen Sammlung menschlicher Hässlichkeit geraten, alle am Beispiel ihres eigenen Ehemanns.

… Es ist nun schon fünf Jahre her, dass meine Frau verunglückte. In jenem Sommer war es besonders heiß, so dass ich in kurzen Hosen aufbrach. Ich wusste durchaus, dass mir Shorts nicht besonders gut stehen, und befahl deshalb meiner Frau, den Fotoapparat zu Hause liegen zu lassen.

Als wir damals transpirierend und keuchend einen Gipfel erklommen hatte, hielten wir eine wohlverdiente Rast. Während ich hinter ihrem Rücken einen Schluck Grappa zu mir nahm, öffnete sie den Rucksack, um die Wasserflasche, Käsebrote und ein Pflaster für ihre wundgelaufenen Füße herauszuholen. Zufällig sah ich dabei, dass sie den Fotoapparat gegen meine Order doch mitgenommen hatte. Ich ärgerte mich so sehr, dass ich nach dem Picknick einen belastenden Beweis ihrer Bosheit erzwingen wollte.

Unrasiert, verschwitzt, mit fettigem Mund, offenem Hemd, zerzaustem Haar und krebsrotem Sonnenbrand war ich sicher ein gefundenes Fressen für ihre Perversion, aber ich wollte es noch auf die Spitze treiben. Am Rand des Abgrunds, der direkt vor unserem Rastplatz lag, pflanzte ich mich auf und urinierte hinunter. Wahrscheinlich konnte sie mich haarscharf im Profil anvisieren, und am leichten Klicken hinter mir erkannte ich, dass sie sich dieses Motiv auf keinen Fall entgehen ließ.

Du willst es so haben, dachte ich, kochend vor Wut. Ich zog das Hemd ganz aus, ließ den Hosenstall offen und kletterte nah am Abgrund herum, als wollte ich Enzian und Edelweiß pflücken, Inzwischen sah ich mit Fienes Augen, dass ich in diesem Augenblick geradezu hinreißend widerlich aussehen musste. Ohne dass ich hinzuschauen brauchte, höre ich, wie sie aufstand und mir nachstieg. Es war nicht besonders schwer, sie näher und näher heranzulocken, bis ich mich plötzlich ruckartig umdrehte und mich drohend vor ihr aufbaute. Da ich noch niemals ähnlich reagiert hatte, erschrak sie maßlos, wich zurück und stürzte ab, ohne dass ich sie auch nur zu berühren brauchte. Zum zweiten Mal im Leben empfand ich so etwas wie reines Glück.

Auf Wiedersehn, liebe Zuhörer! Ich hoffe Sie kommen bald wieder und erzählen zu Hause, dass Sie in Crimeheim waren, das aber keinesfalls das Zentrum der Mafia ist.